
Für Athleten, die sich bei präzisen und schnellen Bewegungen deutlich steigern wollen, hat die Visualisierung einer Bewegung große Effekte. Grund dafür sind die Spiegelneuronen, die es uns ermöglichen, eine Bewegung nachzufühlen, ohne sie selbst auszuführen. Dem Kletterer Adam Ondra verhalf diese Technik zu seinem größten Erfolg: Er meisterte die schwerste Route der Welt.
Am 3. September 2017 war es so weit: Adam Ondra durchstieg die Route Silence in Norwegen, an der er fünf Jahre lang gearbeitet hatte. Mit dem Schwierigkeitsgrad 9c ist sie die bisher schwerste je frei gekletterte Route.
Der damals 25-jährige Kletterer integrierte in seine ehrgeizige Vorbereitung körperliches und mentales Training. Er wollte diese Route unbedingt bezwingen – dafür holte er sich Expertenmeinungen aus der ganzen Welt, um sein Training und sich selbst zu optimieren. Er suchte nach der Inspiration, die ihm half, die notwendige Leistung für sein Projekt abzurufen. „Wenn du ganz oben mitklettern willst, dann musst du trainieren. Nicht nur deinen Körper, sondern auch deinen Geist“, sagt Adam Ondra (1). Einen wichtigen Part hatte dabei der Physiotherapeut und Osteopath Klaus Isele, der unter anderem die österreichische Kletternationalmannschaft betreut.
Visualisieren wie Adam Ondra
Klaus Isele analysierte die Anforderungen der Route und setzte sie mit den Stärken und Schwächen von Adam Ondra in Beziehung. Wadenkräftigung und Schulterstabilisierung standen auf körperlicher Seite im Fokus. Doch der Therapeut riet ihm außerdem, sämtliche Bewegungen vor seinem inneren Auge zu visualisieren und am Boden liegend Trockenübungen zu machen (1). Mithilfe der Visualisierung konnte Ondra üben, seine Bewegungen ganz bewusst auszuführen und die Muskelgruppen gezielt anzusprechen: „Ich versuchte, so genau wie möglich zu sein.“ Jede Einzelbewegung, jede An- und Entspannung ging er wieder und wieder im Kopf mit Trockenübungen durch. So wurden sie zur Routine und ließen sich automatisiert und damit schnell abrufen – mit Erfolg: Am Ende kletterte er Silence.
Worauf Athleten achten sollten
Hans Eberspächer, Sportpsychologe und einer der Pioniere im Bereich Mentaltraining, war bereits lange vor den vielen neurowissenschaftlichen Untersuchungen vom Sinn und Zweck der Visualisierung überzeugt. Und schon Ende der 1980er- und Mitte der 1990er-Jahre haben Meta-Analysen die positive Wirkung deutlich belegt (3, 4). Immer neue Untersuchungen der Neurowissenschaften bestätigen die Erkenntnisse und sorgen für weitere wissenschaftliche Untermauerung (2).
Eine effektive Visualisierung erfolgt in zwei Phasen. In Phase eins ist es wichtig, die Gehirnaktivität zunächst stark zurückzufahren. Der Athlet sollte eine Beruhigung seiner Gedanken bewirken, wie bei der Meditation oder der Tiefenentspannung. Dies ist ein wichtiger Schritt, um sich auf die bevorstehende Handlung zu konzentrieren.
Ein neurowissenschaftlicher Vergleich zwischen einem professionellen Athleten und einem Hobbysportler ergab, dass hier der große Unterschied lag: Der Freizeitsportler hatte in dieser Phase nach wie vor eine sehr diffuse Aktivierung im Gehirn, seine Gedanken waren nicht beruhigt und damit nicht optimal auf die nachfolgende Bewegungsvorstellung fokussiert (2).
In Phase zwei stellt der Athlet sich dann die eigentliche Bewegungsausführung vor. Dabei ist in entsprechenden Gehirnmessungen deutlich zu erkennen, dass die sensomotorischen und visuellen Hirnregionen aktiviert sind. Das heißt: Obwohl er sich nicht bewegt, sind die zur Ausführung und Kontrolle der Bewegung erforderlichen Gehirnareale aktiv. Mithilfe der Visualisierung gelingt es ihm oder ihr also, seine oder ihre für die Bewegung nützlichen Neuronen von inaktiv auf aktiv zu stellen – ohne dafür einen einzigen Muskel zu bewegen.
Dafür muss der Athlet die Bewegung bis ins kleinste Detail kennen, sie im Training stetig auch körperlich wiederholen. Adam Ondra hatte Teile der Route zu diesem Zweck in seiner Kletterhalle nachgebaut. Es galt alle Details und Bewegungen auszuprobieren, um die Schlüsselstellen zu bewältigen. Die richtige Lösung benötigte viel Bewegungskreativität; als sie aber gefunden war, konnte Ondra sie vor seinem inneren Auge unzählige Male wiederholen.
Für einen Profi, der mit den Abläufen sehr vertraut ist, weil sie in seinem Kopf längst zu einem Automatismus geworden sind, hat die Visualisierung einer Bewegung große Effekte auf das Gehirn. Grund dafür sind die Spiegelneuronen, die es uns ermöglichen, eine Bewegung nachzufühlen, ohne sie selbst auszuführen. Dennoch können auch Anfänger mit Visualisierungstechniken trainieren. Insbesondere Phase eins muss hier zunächst geschult werden.
In Phase eins wendest du eine Entspannungstechnik an, zum Beispiel eine Kurzmeditation, Atemtechnik oder Progressive Muskelrelaxation.
Phase zwei
Hier bieten sich als Einstieg fünf Schritte an (5):
Instruktion
Um sich vorzustellen, wie man eine Aufgabe ausführt, muss diese zunächst beschrieben werden. Entweder machst du das selbst, suchst dir ein Lehrvideo oder dein Trainer gibt eine Handlungsanweisung. Wichtig ist, dass du dazu die Eigenerfahrung hast; du musst technisch und konditionell in der Lage sein, die Bewegungen auszuführen.
Wiedergabe der Beschreibung in eigenen Worten
Du gibst den Bewegungsablauf in deinen Worten wieder und nutzt dabei möglichst viele Sinneseindrücke aus deiner eigenen Bewegungserfahrung. Ein Trainer oder Coach hört zu und achtet auf Fehler oder Störquellen. Auch diese Beschreibung kann schriftlich erfolgen (empfehlenswert, wenn du keinen Trainer hast, der das mentale Training unterstützt).
Internalisierung – den Ablauf in Gedanken subvokal durchgehen
Nun lernst du seine Beschreibung auswendig und sprichst sie dir zur Verinnerlichung leise oder in Gedanken (subvokal) vor. Dazu stellst du dir ganz genau die einzelnen Phasen und Merkmale des zu trainierenden Bewegungsablaufes vor. Du kannst dir dabei in Gedanken wie bei einem Film „von außen“ zusehen (verdecktes Wahrnehmungstraining). Alternativ versetzt du dich in die Bewegung hinein, wie Adam Ondra im Film (ideomotorisches Training). So lassen sich die inneren Prozesse, die zur Ausführung der Bewegung erforderlich sind, besonders gut nachempfinden: Zum Beispiel versuchst du, Kräfte, Zug, Druck, Spannung und Entspannung zu spüren und wahrzunehmen. Erst wenn das reibungslos funktioniert, kommt der nächste Schritt.
Reduktion auf Knotenpunkte
Um die Visualisierung zu systematisieren und die entscheidenden Stellen hervorzuheben, ist es wichtig, dass du die Knotenpunkte der Bewegungsausführung definiert. Knotenpunkte erkennt man daran, dass sie die unbedingte Voraussetzung sind, um den nächsten Knotenpunkt zu erreichen. Ein Beispiel: Der Heel Hook ist eine Tritttechnik beim Klettern, bei der man den Fuß mit der Ferse auf einen Tritt, eine Kante oder ein Felsvorsprung setzt und sich dann über das Bein nach oben schiebt. Dabei kann es folgende Knotenpunkte geben (6):
- Der Heel Hook fungiert als eine Art dritte Hand (erster Knotenpunkt).
- Die Ferse drückt von oben auf den Tritt (zweiter Knotenpunkt).
- Durch weiteres Beugen des Knies wird der Körper nach oben gezogen (dritter Knotenpunkt).
- Am höchsten Punkt greift die entlastete Hand weiter (vierter Knotenpunkt).
Symbolische Kürzel für die Knotenpunkte finden
Bezogen auf das genannte Beispiel könnten folgende Kurzformeln verwendet werden: Heel – Ferse – Knie – Hand. Dadurch kannst du dich sich sehr schnell auf das Wesentliche konzentrieren und genau diesen Handlungsablauf visualisieren. So kommst du dem Bewegungsrhythmus nahe und kannst die entscheidenden Punkte betonen; das erleichtert dir die spätere Ausführung.
Der Durchbruch
Die entscheidenden Züge, bevor er die Route Silence nach fünf Jahren Training als erster Mensch endlich durchstieg, beschreibt Adam Ondra sehr intensiv: „Für meinen Kopf war das ein sehr schwieriger Moment: noch eine Knieklemme, noch einmal ausruhen, noch einmal Zeit zum Denken haben. In diesen zwei Minuten fiel es mir sehr schwer, einen kühlen Kopf zu bewahren. Aber irgendwie beruhigte ich mich und vollendete die Route“ (1). Genau darauf hatte er hintrainiert – auch mit Visualisierung.
Quelle: shape UP
Bildquelle: Dudarev Mikhail/ Shutterstock.com